Das erste Mal habe ich diesen Ausblick Mitte der 90er genossen: mit den Öffis angereist und mit wenig gewechselten Lire, mangelhaften Italienischkenntnissen (daran hat sich nichts geändert), Rucksack und Schlafsack ausgerüstet bin ich als Student erstmals in die Toskana aufgebrochen. Und es war sie, die Liebe auf den ersten Blick- die Landschaft hat mich nicht mehr losgelassen, die Dörfer, die Städte, die Luft. Seitdem bin ich dutzende Male (ich übertreibe nicht) "unten" gewesen - mit Exfreundinnen und Freunden, mit der Familie, als Reisebegleiter für Gruppenreisen. Ich kenne ohne Übertreibung jede Region - die Crete senesi genauso wie die toskanische Küste, die Perlen im Süden wie Pitigliano oder Sovana wie die Hügel um Florenz, das grüne Lucca im Westen und das dunkle Cortona im Osten. Ich habe im Zelt geschlafen und in Klöstern, in einfachen Pensionen und in eleganten Hotels und einige Male in Ferienwohnungen und -Häusern. Ich habe neben Kirchenruinen campiert (San Galgano Ende der 90er), habe in den heißen Quellen von Bagno Vignoni gebadet, bin durch Weingärten und dichtes Buschwerk nach Sant'Antimo gewandert, bin Etappen auf der Via Francigena gepilgert (nein, gewandert), habe im Hochsommer in Siena unerträglich geschwitzt, Ende Oktober noch im Golfo di Baratti gebadet und Anfang April Schnee am Monte Amiata erlebt.

Le cose semplici della vita
So vieles hat sich in den drei Jahrzehnten seitdem verändert - Gratisparkflächen sind kostenpflichtig geworden (zu recht), einstmals frei zugängliche Kirchen wie die Abbazia di Monte Oliveto Maggiore oder die beeindruckende Kirchenruine von San Galgano verlangen Eintritt (absolut zu recht), einstmals ruhige Dörfer wie Monteriggioni oder Pienza werden von Busreisegruppen wie von Heuschreckenschwärmen heimgesucht (Siena hat mittlerweile in der Hochsaison in einem bestimmten Zeitraum Einfahrtssperren für Busse ). Der Massentourismus hat natürlich vor der Toskana keinen Halt gemacht - und dennoch bleibt und ist sie ein besonders gelungener Schöpfungsakt des Höchsten sozusagen.
Vor allem: Es gibt sie noch immer, die kleinen, ruhigen Punkte, nicht überlaufen, wenn man die richtige Zeit im Jahr und/oder die richtige Uhrzeit kennt. Einer meiner absoluten Lieblingsorte soll als Beispiel dienen. Das Bild zeigt den Blick von Pienza hin zum Monte Amiata. Wenn man das Renaissance - Musterstädtchen, das Papst Pius II. anstelle seines Geburtsortes Corsignano errichten ließ, nach 18.00 Uhr besucht sind die meisten Heuschrecken/Bustouristen schon weg (spätestens ab 19.00 Uhr kehrt Ruhe ein). Wenn man dann hinter dem Domplatz rechts einem schmalen Weg folgt, kommt man auf der Stadtmauer entlang zu einer kleinen Bar. Diese gab es schon bei meinem ersten Mal (bei wahrscheinlich wechselnden Besitzer:innen) und es gibt sie noch immer (letzte Überprüfung Mai 2023). An die Theke getreten, ein Glas Vernaccia di San Gimignano bestellt, hinausgestellt an die niedrige Mauer, zwecks maximaler Entspannung noch eine Moods Doppelfilter angezündet und dann einfach den Blick in die Gegend richten. Dann passiert etwas, was im Falle von Goethes Faust zur Verdammnis führen würde - denn dann sagt man zum Moment "Verweile doch, du bist so schön". So ist es mir bei meinem ersten Mal in Pienza passiert - und bis zum heutigen Tag hat diese alte Liebe nicht an Reiz verloren.
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